Die Beurteilung von Leistungen gehört zu den wichtigsten Aufgaben von Ausbildenden. Die Anforderungen an eine faire Beurteilung sind hoch. Häufig werden Bewertungen von sogenannten Wahrnehmungsverzerrungen beeinflusst. Wie Sie diesen begegnen können, erfahren Sie in diesem Blogbeitrag.

Wer ausbildet, ist zwangsläufig auch mit dem Thema Beurteilung von Lernleistungen konfrontiert. Die Leistungsbeurteilung ist ein wichtiges Element des Lernprozesses. Die Lernenden erhalten eine Rückmeldung zu ihrem Lernstand und die Ausbildenden erkennen entwickelte Stärken und noch vorhandene Lücken. Gemeinsam gilt es Fehlendes aufzuarbeiten und Vorhandenes zu festigen. Doch die Leistungseinschätzung in der Ausbildungspraxis ist mit einigen Herausforderungen verbunden, die eine gültige, zuverlässige und chancengerechte Beurteilung erschweren. So passiert es leider häufig, dass nicht das beurteilt wird, was eigentlich beurteilt werden soll

Faire Leistungsbeurteilungen sind eine Herausforderung

Leistungen werden teilweise an eigenen, persönlichen Kriterien gemessen und nicht an den im Bildungsplan vorgegebenen Leistungszielen. Oft beeinflussen der persönliche Auftritt, Charme oder Aussehen einer Person die Qualität der Leistungsbeurteilung negativ. Eine weitere Herausforderung ist es, für alle Beteiligten möglichst vergleichbare Rahmenbedingungen für die zu beurteilende Situation zu schaffen. So kann zum Beispiel der Zeitpunkt einer Bewertung sehr entscheidend sein. Eine Bewertung frühmorgens und eine am Ende eines langen, intensiven Arbeitstags finden unter unterschiedlichen und beeinflussenden Bedingungen statt.

Störfaktoren für eine faire Leistungsbeurteilung bei Lernenden

In der beruflichen Grundbildung sowie in normalen Arbeitsbeziehungen sind Ausbildende beziehungsweise Vorgesetzte in ihrer Rolle verpflichtet, Bewertungen abzugeben oder Zeugnisse zu erstellen. Doch häufig sind gerade enge, vertraute oder auch stark belastete Beziehungen besonders anfällig auf sogenannte Wahrnehmungsverzerrungen. Diese beeinflussen die Leistungseinschätzungen. Sympathische, fleissige, engagierte und humorvolle Personen sind gegenüber eher zurückhaltenden, unbequemen, launischen Angestellten in der Einschätzung ihrer Leistungen häufig bevorteilt, auch wenn sie objektiv vergleichbare Resultate zeigen.

Häufige Wahrnehmungsverzerrungen sind sogenannte Halo-Effekte, Strenge- und Mildeeffekte, sowie Erwartungseffekte:

1. Beim Halo-Effekt lässt sich die beurteilende Person vom Gesamteindruck oder von Teileindrücken beeinflussen. Sie macht sich ein übermässig vereinfachtes Bild von der zu beurteilenden Person. Z.B. schliessen Beurteilende aufgrund des guten, gepflegten beziehungsweise ungepflegten Aussehens, der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit oder anderen äusseren Einflüssen auf eine vorhandene oder fehlende Kompetenz.

2. Beim Strenge- und beim Mildeeffekt folgt die beziehungsweise der Beurteilende einer persönlichen Vorstellung von Leistung und beurteilt diese ausgesprochen mild oder gegenteilig ausgesprochen streng. Häufig treten diese Effekte bei beurteilenden Personen auf, die sich als besonders grosszügig und nachsichtig geben möchten. Oder im Gegenteil sich selbst gerne als streng und anspruchsvoll sehen und geben.

Besonders bei längeren Arbeits- und Ausbildungsbeziehungen können vorgefasste Vorstellungen oder persönliche Erwartungen über die Leistungsmöglichkeiten einer Person einen Einfluss auf die Beurteilung haben. Über einen längeren Zeitraum hinaus gesammelte Erfahrungen und Erlebnisse bleiben in der Erinnerung haften und fliessen positiv oder negativ in die Leistungsbeurteilung ein.

Massnahmen für eine faire Beurteilung

Solche Effekte sind für faire Beurteilungen selbstverständlich nachteilig. Sie sind jedoch unter anderem biologisch bedingt und lassen sich auf die Entwicklungsgeschichte der Menschen zurückzuführen. Sie sind eine Konsequenz der Fähigkeit des Gehirns, sich schnell in der Umwelt zu orientieren, Eindrücke rasch zu bewerten, um angemessen reagieren zu können.

Deshalb lassen sich Effekte von Wahrnehmungsverzerrungen nicht vollständig ausschliessen. Beurteilende können lediglich versuchen, sich bewusst zu machen, für welche Wahrnehmungsverzerrungen sie besonders anfällig sind.

Um den Risiken von Wahrnehmungsverzerrungen zu begegnen, sind die Ausbildenden und Beurteilenden gefordert, ihr Verhalten und ihre Einschätzungen selbstkritisch zu hinterfragen. Folgende Fragen können dabei leitend sein:

  • Was spricht mich bei der Person besonders an? Was stösst mich bei der Person ab?
  • An wen erinnert mich diese Person? Wie stehe ich zu jener Person?
  • Was fällt mir bei der Person besonders auf?
  • Beurteile ich die Leistung oder die Person?
  • Beurteile ich aufgrund von beobachtbaren Kriterien oder aufgrund von eigenen Eindrücken?
  • Wie verhält sich die Beurteilung im Vergleich zur Beurteilung von anderen Personen?
  • Mit wem oder mit welcher Leistung vergleiche ich die Leistung der Person?
  • Bin ich müde, angespannt, nervös, besonders gut gelaunt, fröhlich?
  • Weshalb bewerte ich die Leistung besonders streng, mild oder in der Mitte?
  • Nach welchen Kriterien habe ich die Beurteilungssituation ausgewählt oder Fragen gestellt?

Fazit

Ausbildende und Vorgesetzte müssen sich bei der Beurteilung von praktischen und mündlichen Leistungen von Lernenden und Mitarbeitenden bewusst sein, dass sie verschiedenen Gefahren von Wahrnehmungsverzerrungen ausgesetzt sind. Diesen können sie nur durch ein selbstkritisches Hinterfragen ihrer eigenen Beurteilungen begegnen.


Infobox

Anfang Oktober 2020 erschien vom Autor dieses Beitrags, Gregor Thurnherr, ein Fachbuch mit dem Titel: «Handlungskompetenzorientiert prüfen – Leistungsbewertung in der Berufsbildung». Das Buch richtet sich an Lehrpersonen, Prüferinnen und Prüfungsautoren in der Berufsbildung, sowie an Ausbildende mit bewertenden Aufgaben. Es ist im Fachhandel oder direkt beim hep-Verlag erhältlich.


Gregor Thurnherr, Dr. phil., ist Geschäftsführer und Inhaber des Instituts Bilden Beraten GmbH und Dozent an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Als selbständiger Berufspädagoge bietet er verschiedene Beratungs- und Bildungsdienstleistungen an. Ein Schwerpunkt bildet dabei die berufspädagogische Begleitung bei der Entwicklung oder Revision von Berufen. Gregor Thurnherr bildet zudem Ausbilderinnen und Ausbilder aus. Im Oktober 2020 erschien im hep-Verlag sein Buch: Handlungskompetenzen prüfen – Leistungsbewertung in der Berufsbildung